Als du das erste Mal in den Living Lands aufwachst, fühlt es sich an, als würde eine ganze Welt vor dir liegen – voller mysteriöser Kreaturen, skurriler Charaktere und atemberaubender Landschaften. Avowed, das neueste RPG von Obsidian Entertainment, spielt im Universum von Pillars of Eternity, setzt aber auf eine First-Person-Perspektive und jede Menge erzählerischen Tiefgang. Aber wird es der große Genre-Hit, den wir uns alle erhofft haben, oder bleibt es hinter den Erwartungen zurück? Tauchen wir ein.
Willkommen in den Living Lands – hier gibt’s mehr als nur schöne Aussichten
Du spielst als Abgesandter von Aedyr, geschickt, um eine tödliche Seuche namens Dreamscourge zu untersuchen. Klingt schon mal düster – und wird es auch. Diese mysteriöse Krankheit verwandelt Menschen langsam in wahnsinnige Hüllen ihrer selbst. Und als wäre das nicht genug, hast du auch noch eine unheimliche Stimme in deinem Kopf, die sich ständig einmischt. Kein Druck.
Von Anfang an wird klar: Jeder NPC hat eine Meinung darüber, wie man mit der Plage umgehen sollte. Einige wollen sie auslöschen, andere sie verstehen, wieder andere… naja, haben ganz eigene dunkle Pläne. Die Story entfaltet sich in klassischer Obsidian-Manier: komplex, voller moralischer Grauzonen und mit Entscheidungen, die sich wirklich bedeutsam anfühlen.
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Gameplay – Wie spielt sich Avowed?
Obsidian hat sich hier für einen kompakteren Ansatz entschieden. Statt einer endlosen Open World gibt es vier große Biome, die jeweils eigene Themen, Quests und Herausforderungen bieten. Kein zielloses Umherirren, sondern eine gut durchdachte, angenehm strukturierte Welt. Kein Füllmaterial, kein künstlich gestreckter Content – einfach eine verdammt gut erzählte Geschichte.
Das Kampfsystem ist vielseitig und fühlt sich wuchtig an. Schwerthiebe haben Gewicht, Magie knallt ordentlich, und kritische Treffer lassen Gegner tatsächlich auf die Knie gehen. Du kannst zwischen verschiedenen Kampfstilen wechseln, sei es klassisches Schwert-und-Schild, ein Zweihand-Koloss oder eine Kombination aus Magie und Fernkampf. Keine festen Klassen – du kannst jederzeit deine Strategie anpassen.
Ein spannender Aspekt: Dein Fortschritt hängt weniger von deinem Level ab, sondern von deiner Ausrüstung. Statt nur XP zu sammeln, musst du Ressourcen finden oder Ausrüstung upgraden. Das sorgt für Motivation, kann aber auch dazu führen, dass du irgendwann gezwungen bist, Sidequests zu erledigen, weil die Hauptmission einfach zu hart wird.
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Deine Begleiter – Zwischen Drama, Humor und Lagerfeuergesprächen
Ein starkes Obsidian-RPG steht und fällt mit seinen Begleitern – und hier enttäuscht Avowed nicht. Deine Truppe ist nicht nur kampfstark, sondern bringt auch jede Menge Charakter und Dynamik ins Spiel.
Da ist zum Beispiel Kai, ein Soldat mit tragischer Vergangenheit, gesprochen von niemand Geringerem als Brandon Keener, der Mass-Effect-Fans als Stimme von Garrus Vakarian bekannt sein dürfte. Kai ist eine Mischung aus stoischer Pflichterfüllung und leiser Melancholie – ein treuer Begleiter, der viel durchgemacht hat, aber stets das Wohl anderer im Blick behält.
Dann haben wir Marius, einen zwergischen Jäger mit einer ausgeprägten „Ich hasse alles“-Attitüde. Er ist der klassische grummelige Außenseiter, der auf den ersten Blick keine Gesellschaft will, aber insgeheim vermutlich doch ganz froh ist, nicht allein zu sein. Auch wenn er es natürlich nie zugeben würde.
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Giatta, eine Animantin, bringt nicht nur tiefgründiges Wissen über Seelen und den magischen Unterbau dieser Welt mit, sondern auch einen ruhigen, analytischen Geist. Sie ist so etwas wie der emotionale Anker der Gruppe – stets bedacht, aber niemals langweilig.
Und dann wäre da noch Yatzli, die wohl schrägste Figur im Team. Sie ist eine Magierin mit einem Hang zum Chaos, klingt, als hätte sie bereits zwei Flaschen Wein intus, und erinnert stark an die exzentrische Tante, die bei Familienfeiern immer einen Tick zu laut spricht. Direkt, sarkastisch und völlig unberechenbar – aber genau das macht sie so unterhaltsam.
Diese Charaktere sind mehr als nur KI-gesteuerte Mitläufer. Sie kommentieren deine Entscheidungen, diskutieren miteinander und bringen sich aktiv in die Story ein. Besonders genial sind die Lagerfeuer-Gespräche: Hier kannst du deine Begleiter besser kennenlernen, persönliche Geschichten erfahren und in tiefgründige Dialoge eintauchen. Diese Momente verleihen dem Spiel eine zusätzliche emotionale Tiefe, und oft sind es genau diese stillen, nachdenklichen Gespräche, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen.
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Ach ja, es gibt auch Romanzen, und Avowed geht damit angenehm unaufgeregt und inklusiv um. Kein überdramatisches Telenovela-Drama, sondern glaubwürdige, gut geschriebene Beziehungen, die sich natürlich entwickeln.
Kritik – Wo gibt’s noch Luft nach oben?
So viel Lob, aber natürlich gibt es auch Schwachstellen. Ein großes Problem ist die KI der Gegner, die sich oft nicht sonderlich clever anstellt. Manchmal bleiben Feinde einfach stehen oder rennen orientierungslos herum, was die ansonsten dichte Atmosphäre etwas trübt. Auch deine Begleiter glänzen nicht immer durch Intelligenz – hin und wieder schauen sie im Kampf lieber zu, statt aktiv mitzumischen. Das kann frustrierend sein, wenn man auf ihre Unterstützung angewiesen ist.
Ein weiterer Punkt, der für Diskussionen sorgt, ist das fortschrittsbasierte Ausrüstungs-System. Statt sich einfach durch Erfahrungspunkte hochzuleveln, hängt dein Erfolg stark davon ab, welche Waffen und Rüstungen du findest oder verbessern kannst. Das klingt erstmal spannend, kann aber dazu führen, dass man sich in manchen Missionen unterlevelt fühlt und gezwungen ist, Nebenquests zu erledigen, um an bessere Ausrüstung zu kommen. Wer einfach nur die Hauptstory genießen will, könnte sich hier ausgebremst fühlen.
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Und dann wäre da noch die Größe der Spielwelt. Während einige Spieler die kompakte Struktur von Avowed loben, vermissen andere die Freiheit einer riesigen Open World. Statt einer weitläufigen Karte mit nahtlosen Übergängen gibt es vier große, voneinander getrennte Gebiete. Das sorgt zwar für eine straffere Erzählweise, könnte aber diejenigen enttäuschen, die gerne stundenlang ziellos durch eine Fantasywelt streifen.
Ein starkes RPG, aber noch nicht perfekt
Avowed ist ein großartiges Spiel mit einer fesselnden Story, tiefgründigen Charakteren und einem durchdachten Gameplay-Loop. Es ist nicht perfekt, aber es macht verdammt viel richtig. Wer ein episches Fantasy-Abenteuer mit komplexen Entscheidungen, spannenden Begleitern und dynamischem Gameplay sucht, wird hier voll auf seine Kosten kommen. Es ist nicht das nächste Skyrim – und will es auch gar nicht sein.
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